Interview mit Prof. Dr. Sigrid Arnade – der neue iXNet-Podcast im Herbst 2023
Aktivistin für die Rechte von Frauen mit Behinderungen goes Science
Prof. Dr. Sigrid Arnade ist Tierärztin, Ökologin, politische Aktivistin - mit einem Gespür für Gendergerechtigkeit - und für die Rechte von Frauen mit Behinderungen. Am 22. Mai 2023 wurde sie auch noch Honorarprofessorin. Die Alice Salomon Hochschule Berlin ehrte Dr. Sigrid Arnade für Ihre Lebensleistung sowie ihr politisches Engagement für behinderte Frauen.
Andreas Brüning
Wenn du dich hier und jetzt selber porträtieren solltest, wie würdest du das tun?
Prof. Dr. Sigrid Arnade
Ich bin eine 66-jährige, schlanke, grauhaarige Rollstuhlfahrerin. Die Abenteuer liebt, die Welt verbessern will, sich auch ganz gerne mit Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen streitet und die Natur liebt und gerne paddelt, Rolli-Bike fährt und jeden Morgen in ihrem Garten in den Schwimmteich geht.
Andreas Bruening:
Was war für dich persönlich der Auslöser, eine Aktivistin für Inklusion und Gender/Frauenperspektiven zu werden?
Prof. Dr. Sigrid Arnade:
Der Auslöser war meine eigene Beeinträchtigung. Also mit ungefähr 30 Jahren wurde ich Rollstuhlfahrerin und war eigentlich gelernte Tierärztin. Dann der fliegende Wechsel vom Kuhstall in die Redaktion. Ich bewarb mich und wurde Chefredakteurin einer Behindertenzeitschrift, wobei ich von Journalismus erstmal keine Ahnung hatte und habe mir das versucht anzueignen. Ich war schon als Tierärztin eher Feministin gewesen und bin dann in Frauenbuchladen gegangen und wollte eben lesen oder Literatur zur Situation behinderter Frauen kaufen und stellte fest, es gibt nichts. Es gab eine wissenschaftliche Arbeit, aber sonst überhaupt nichts. Die Erfahrungen von Benachteiligung, Ungerechtigkeit, Diskriminierung haben mich dann eben dazu veranlasst, mich für den Bereich einzusetzen.
Andreas Brüning
Was möchtest du mit deiner neuen Rolle als Honorarprofessorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin in Forschung und Lehre einbringen?
Prof. Dr. Sigrid Arnade
Ich bin ja eher die Aktivistin. Aber auf einem soliden Fundament von Fakten. Und dazu muss man eben schon die Studien lesen und die Quellen kennen. Insofern hat mich das total gewundert, als ich die Anfrage von der Alice Salomon Hochschule bekommen habe. Aber dann habe ich mich mit dem Gedanken angefreundet und sehe meine Aufgabe darin, einen gesunden Widerstandsgeist in den Studierenden zu fördern. Ja, so zu zeigen, es lohnt sich, den Sachen auf den Grund zu gehen und für Veränderungen zu kämpfen. Man kann nicht gleich die ganze Welt verbessern, aber man kann kleine Erfolge doch erreichen.
Andreas Brüning
Wie hat die Alice Salomon Hochschule Berlin bei der Ernennungs-Veranstaltung im Mai 2023 auf dich als Aktivistin gewirkt?
Prof. Dr. Sigrid Arnade
Ich konnte eine dreistündige Veranstaltung selber gestalten und habe das mit Mitstreiter*innen zum Thema behinderte Frauen gemacht. Wen wundert es. Ich glaube, mein Profil oder was ich anzubieten habe, passt da auch gut rein, in diese Vielfalt. Das glaube ich schon ist ein Alleinstellungsmerkmal, etwas Besonderes an der Alice Salomon Hochschule, dass da doch sehr diverse Studierende unterwegs sind.
Andreas Brüning
Wie sieht die Teilhabe am Arbeitsleben von behinderten Frauen im Vergleich zu behinderten Männern aus?
Prof. Dr. Sigrid Arnade:
Das Wort „Frauen“ tauchte erstmals im Jahr 2000 in einem Gesetz auf, im SGB IX. Im SGB IX sind viele Regelungen für behinderte Mädchen und Frauen drin. Aber in der Praxis hat sich nicht viel geändert, so dass behinderte Frauen nach wie vor das Schlusslicht auf dem Arbeitsmarkt bilden und sie auch um einiges stärker von Armut betroffen sind als behinderte Männer. Ich sage da immer, der Schnitt zwischen Armut und Reichtum oder auskömmliche Geldeingänge geht nicht zwischen behindert und nicht behindert, sondern geht zwischen Männern und Frauen.
Andreas Brüning
IXNet beschreibt sich selbst als inklusives Netzwerk mit von und für Akademiker*innen mit Behinderungen und ist seit dem 01.05.2022 ein Teil des Arbeitgeberservice für schwerbehinderte Akademiker der Bundesagentur für Arbeit. Ziel von iXNet ist, diese Zielgruppe besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren und Unterstützungsleistungen anzubieten sowie zu entwickeln.
Wie können Akademiker*innen mit Behinderung empowert und erfolgreicher in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse vermittelt werden?
Prof. Dr. Sigrid Arnade:
Also ich denke, es ist hilfreich, wenn es Vorbilder gibt, so dass nicht die einzelnen Betroffenen, egal ob Männer oder Frauen, sich als die einzigen oder ersten auf weiter Flur fühlen. Peerberatung spielt sicherlich eine wichtige Rolle, sowie von anderen Betroffenen zu hören und zu lernen. Und es reicht natürlich auch nicht, behindert zu sein. Man muss auch das nötige Know-how mitbringen. Die Arbeitsagenturen, was oft noch unbekannt ist, bieten eine vollfinanzierte Probebeschäftigung bis zu drei Monaten an. Das ist doch eine wirksame Möglichkeit, um auch Arbeitgeber*innen ihre Berührungsängste oder Scheu zu nehmen und zu sagen: Hier! Kostenlos könnt ihr es drei Monate ausprobieren und dann sehen wir weiter.
Andreas Brüning
Was machen andere Länder beim Thema Inklusion und Teilhabe besser oder auf andere Weise gut? Was können wir von ihnen lernen?
Prof. Dr. Sigrid Arnade
Ich glaube, in Bezug auf schulische Inklusion bilden wir ja inzwischen so ungefähr das Schlusslicht in Europa. Da sind andere Länder, auch Portugal, Spanien, die skandinavischen Länder sowieso weiter als wir. Da können wir sicherlich einiges von lernen. In den angloamerikanischen Ländern USA, Kanada, Australien, Neuseeland, aber auch Großbritannien ist dieses menschenrechtliche Denken oder Bürgerrechtsdenken viel ausgeprägter als bei uns, diese Antidiskriminierungskultur. Bei uns ist die Wohlfahrt und das Sozialstaatsprinzip stark. Und dort ist eher der Antidiskriminierungsgedanke stark. Ich denke, man muss beides zusammenbringen. Ich möchte jetzt auch nicht auf die sozialen Errungenschaften in Deutschland verzichten und nicht alles so machen wie in den USA. Aber mehr Bürgerrechtsdenken, mehr menschenrechtliches Denken täte uns hier in Deutschland gut.
Andreas Brüning
Wie können Arbeitgeber*innen diese Antidiskriminierungskultur konkret positiv mit beeinflussen, mit welchen Aktivitäten?
Prof. Dr. Sigrid Arnade:
Also erst mal müssten die Arbeitgeber*innen verpflichtet werden zur Barrierefreiheit. Also die Arbeitsstättenverordnung muss dringend geändert werden. Nach der Arbeitsstättenverordnung müssen Arbeitgeber:*innen nur barrierefreie Arbeitsstätten schaffen, wenn sie behinderte Menschen beschäftigen. Und das ist ein Zirkelschluss, der ins Nichts führt, weil die natürlich sagen: wir können keinen beschäftigen, weil wir nicht barrierefrei sind, also beschäftigen sie keinen, also müssen sie auch nicht barrierefrei sein. Das führt ins Nichts und zur Null-Beschäftigung.
Arbeitgeber*innen müssen eben auch aufgeklärt werden und es muss Kampagnen geben. Ja, vom Fachkräftemangel ist landauf, landab die Rede. Und die schwerbehinderten Arbeitslosen sind im Schnitt besser qualifiziert als der Schnitt der Arbeitslosen. Das muss man eben Arbeitgeber*innen verdeutlichen und den Wert auch von behinderten Mitarbeiter*innen für die Vielfalt der Belegschaft deutlich machen. Und ich glaube, Kampagnen könnten da einen guten Beitrag leisten.
Andreas Brüning
Welche Bedeutung hat die Peer-Gruppe oder ein gutes Netzwerk für Dich?
Prof. Dr. Sigrid Arnade
Also das war mir immer wichtig. Ich bin zwar sehr kämpferisch, war ich auch schon immer, aber nie eine Einzelkämpferin. So alleine gegen den Rest der Welt, das hätte ich nicht durchgehalten. Aber ich brauchte immer so eine Rückendeckung, Leute, die das gut und richtig fanden, was ich so tat oder nicht tat. Dieses Netzwerken, das ist mir sehr wichtig.
Andreas Brüning
Was hat dir in der Rolle der Aktivistin für Inklusion und Gendergerechtigkeit immer wieder Mut gemacht, weiter zu kämpfen und dich weiter zu engagieren?
Prof. Dr. Sigrid Arnade
Ich habe nie alles erreicht, was ich wollte und nie so schnell wie ich wollte. Und vieles noch nicht mal in Ansätzen. Und trotzdem gab es immer, immer wieder Teilerfolge. Und das ist natürlich zum einen Ansporn, zum anderen aber auch, was mich dann immer wieder aktiviert hat oder auf die Palme gebracht hat, sind irgendwelche Ungerechtigkeiten. Nee, also jetzt, jetzt muss hier aber mal was passieren, das geht so nicht weiter wie damals. Als beim BTHG (Bundesteilhabegesetz) der erste Referentenentwurf das Licht der Öffentlichkeit erblickte, im April 2016, und das weiß ich noch, ich war so stinksauer. Ich war ja an diesem hochrangigen Beteiligungsprozess beteiligt gewesen, hatte da Tage in diesem lichtlosen K1 im Kleisthaus gesessen und vorher stapelweise Papiere durchgearbeitet, und dann kommt so einen Scheiß dabei raus. Im Mai haben wir uns dann eine Nacht am Reichstagsufer angekettet.
Andreas Brüning:
Die Mitarbeiter*innen der Bundesagentur für Arbeit sind ja zur Neutralität angehalten und haben sich nicht angekettet. Wie hast du als Aktivistin die Berater:*innen des Arbeitgeberservice für schwerbehinderte Akademiker*innen und iXNet der ZAV in Bonn erlebt?
Prof. Dr. Sigrid Arnade
Ich habe den Arbeitgeberservice für schwerbehinderte Akademiker:innen immer als ausgesprochen engagiert und wirkungsvoll erlebt. Ich habe als erstes Rainer Schwarzbach kennengelernt, als er damals noch in Frankfurt war. Den habe ich einmal interviewt und ein Porträt über ihn geschrieben. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass die gut wissen, wovon sie reden und eine gute Vermittlungsquote haben und sich engagieren für behinderte Akademiker*innen. Und ich fand es immer erstaunlich, dass die Jobcenter bundesweit so wenig wissen, dass es die ZAV überhaupt gibt.
Andreas Brüning
Was planst du für die Zukunft?
Prof. Dr. Sigrid Arnade
Eigentlich dasselbe wie bisher. In meiner ganzen beruflichen Tätigkeit war zum einen das Kämpfen für Verbesserungen wichtig und gleichzeitig ganz viel Reisen. Ich habe zweimal ein halbes Jahr Auszeit genommen und bin nach Australien gefahren und das werde ich auch weitermachen. Wobei ich hoffe, dass das Verhältnis sich verschiebt zugunsten des Reisens.
Andreas Brüning
Wir danken dir für das aktivistische Gespräch.