Ein Gespräch vom 31.03.2023 mit Raúl Aguayo-Krauthausen, Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit und Mitgründer von „Sozialheld*innen e.V“
Raúl Aguayo-Krauthausen ist Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, lebt in Berlin und ist 42 Jahre alt. Er hat Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert, sowie Design Thinking absolviert. Raúl Aguayo-Krauthausen nutzt einen Rollstuhl. Er hat seit fast 20 Jahren die Behindertenbewegung in Deutschland mitgeprägt und neue mediale Wege ausprobiert. In seinem neuen Buch reflektiert er das Themenfeld „Inklusion und Barrierefreiheit“. Hier unterscheidet er Teilhabe und Teilgabe, wobei er mit Teilgabe, die Erfahrungen, Impulse und Kompetenzen, die Menschen mit Behinderungen der nicht-behinderten Mehrheitsgesellschaft geben können meint.
Raúl Aguayo-Krauthausen offeriert ferner die Kraftquellen, die Menschen mit Behinderungen anzapfen können, um sich selbstbestimmt in das gesellschaftliche Leben einzumischen und ein Lichtpunkt unter Lichtpunkten in der inklusiven gesellschaftlichen Vielfalt zu sein.
Andreas Brüning
Lieber Raúl, du hast Mitte März 2023 ein politisches Buch zum Thema Inklusion veröffentlicht. Was war der Anlass, dieses Buch zu schreiben?
Raúl Aguayo-Krauthausen
Ich wollte nach fast 20 Jahren Aktivismus im Bereich Inklusion das Thema außerhalb meiner eigenen Erlebniswelt und meines eigenen Erlebens beleuchten. Also nicht danach was für Erfahrungen ich gemacht habe und wann ich zuletzt diskriminiert wurde, sondern Lösungen zeigen und auch von meinen Fehlern, die ich selber gemacht habe lernen. Das sind meiner Ansicht nach für einen behinderten Menschen, die größten Herausforderungen, auf die ich treffe. Und es ist meiner Meinung nach nicht das Problem, dass man irgendwelche Barrieren, in irgendwelcher Leute Köpfe senken müsse oder Vorurteile abbauen, sondern es geht um die fehlende Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Und das kann auch nicht mit Aufklärung gelöst werden, sondern nur mit gesetzlicher Verpflichtung. Behinderte Menschen haben auch ein Recht auf Bildung, haben auch ein Recht auf Mobilität, auf Klassenfahrten. Und ganz ehrlich, niemand da draußen sagt, ich hab kein Recht auf Bildung oder auf Klassenfahrten, sondern sie sagen dann eher, ja, aber ich weiß nicht wie. Meine Nachbarin muss nicht wissen, wie eine inklusive Klassenfahrt aussehen kann. Sie darf es nur nicht verhindern, dass Menschen es versuchen. Und dass meine ich mit Begegnung. Also, lass uns doch mal ausprobieren, wie weit wir kommen, bei einer inklusiven Klassenfahrt und wahrscheinlich geht mehr, als wir alle glauben. Aber nur, weil wir es mal probiert haben, werden wir lernen und nicht durch Aufklärung.
Andreas Brüning
Du denkst, dass die aufklärenden Kampagnen der gesellschaftlichen Wohlfahrtssysteme nicht mehr ausreichen, um Vielfalt und Inklusion als Status Quo zukünftig zu etablieren. In deinem Buch sprichst du von Teilgabe, die Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, leisten wollen. Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff „Teilgabe“?
Raúl Aguayo-Krauthausen
Ein zentraler Aspekt der unsere Gesellschaft verändern kann, ist Kunst und Kultur. Das bedeutet, wenn wir über Inklusion und Teilhabe sprechen, dann meinen wir viel zu häufig etwas Passives. Also, ein Kinosaal ist barrierefrei, da gibt es zwei Rollstuhlplätze, und dann können behinderte Menschen auch am Kinofilm teilhaben. Aber es ist passiv. Ich konsumiere die ganze Zeit. Teilgabe wäre, wenn behinderte Menschen auch auf Leinwänden erscheinen, auf Bühnen, in Museen, in Kulturstätten, als Lehrer*innen auftreten. Und das ohne das Label „Inklusion“ oben drauf zu kleben, sondern einfach, weil sie gute Künstler*innen oder gute Lehrer*innen sind. Solange das nicht passiert, solange wir behinderte Menschen nur als passive Menschen sehen, die konsumieren, und nicht als Menschen sehen, die auch etwas geben können, solange kommen wir in Deutschland keinen Schritt weiter. Das heißt, wir brauchen behinderte Menschen auch in der Öffentlichkeit, sichtbar, die dann für viele auch als Vorbilder fungieren können und die die nicht-behinderte Mehrheitsgesellschaft einfach mal vor Tatsachen stellen. Z.B., dass ihre Busfahrer*in jetzt einarmig ist, oder dass die Bäcker*in gehörlos ist, oder die Schauspielerin, des nächsten Oscar-Preisträger*innen-Films blind.
Andreas Brüning
Die UN-Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen schwebt noch über Deutschland.
Nicht-behinderte und behinderte Menschen sollen sich in einem inklusiven Kindergarten-, Schul- und Hochschulsystem sowie einer inklusiven Arbeitswelt begegnen können. Begegnung ist für dich, Raúl, ein Schlüsselwort, eine Voraussetzung, um eine inklusive Lebenswelt zu erschaffen. Doch wie können wir uns, die Menschen mit Behinderungen und die nicht-behinderte Mehrheitsgesellschaft, besser aushalten lernen?
Raúl Aguayo-Krauthausen
Ich tue mich immer schwer mit so großen Worten, wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und wenn wir das Wort Menschenrechte bemühen, versuche ich das immer herunter zu brechen auf einen Park. Also, stell dir vor, wir gehen in den Park. Im Park hat niemand von uns beiden das Recht zu sagen, ich oder du dürfen hier nicht sein. Also ich darf nicht sagen, dass du da nicht sein darfst und umgekehrt. Wenn wir uns partout nicht ausstehen können, dann ist die einzige Option, dass wir getrennte Wege gehen. Das ist Inklusion. Inklusion bedeutet nicht, dass wir uns alle liebhaben müssen. Inklusion bedeutet auch nicht Bullerbü, sondern Inklusion kann nur bedeuten, dass wir lernen einander auszuhalten. Wenn ich dich nicht aushalte oder wenn du mich nicht aushältst, ist die einzige Option, ich oder du gehen woanders hin.
Andreas Brüning
Wie überwindest du diese Hindernisse und wie hast du das Aushalten als Aktivist für Inklusion gelernt?
Raúl Aguayo-Krauthausen
Ich versuche mir immer wieder die Frage zu stellen, wer verhindert eigentlich, dass ich nicht dort bin und wie kann ich das thematisieren. Dann versuche ich mir eine Lösung zu überlegen.
Also, muss man nur eine Rampe kaufen? Wer müsste die Rampe bezahlen? Und natürlich ist es nicht immer die Verantwortung der Zivil-Gesellschaft, sondern vielleicht auch die des Vorgesetzten oder der Politik, der Entscheider*innen und so weiter. Das löst jetzt akut in dem Moment das Problem nicht, aber es stellt immer wieder neue Systemfragen und kann dann vielleicht auch sogar die Leute einladen mitzumachen, um diesen Missstand beim nächsten Mal zu beseitigen. Anstatt immer zu sagen, ja Mist, haben wir nicht daran gedacht, vielleicht beim nächsten Mal. Nein, man sorgt dafür, dass es beim nächsten Mal so ist, und kämpft mit mir dafür. Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben: „Wer Inklusion will, findet einen Weg - und wer sie nicht will, findet einfach nur eine Ausrede“.
Wenn du dein Kind morgen zur Kita schickst, und dein Kind hat keine Behinderung, und du siehst, dass die anderen Kinder auch keine Behinderung haben, dann fragt doch mal die Kita-Leitung, warum dein Kind nicht die Möglichkeit hat, mit behinderten Kindern zusammen zu spielen. Also, auch Menschen ohne Behinderung entgeht ja etwas, wenn sie behinderten Menschen nicht begegnen. Wir sind ja als behinderte Menschen Personen, die eine Gesellschaft auch bereichern. Wir sind ja nicht nur ein Problem, wir haben gute Einfälle und wir sind vielleicht auch witzig.
Andreas Brüning
Was hast du selbst aus deinen Fehlern als Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit in den letzten Jahren gelernt?
Raúl Aguayo-Krauthausen
Unter anderem, dass ich selber geglaubt habe, ich muss genug aufklären, und dann würde sich die Welt schon zu einer besseren bewegen.
Eigentlich habe ich damit die ganze Zeit für die Menschen den Erfüllungsgehilfen gespielt, die jetzt nichts akut ändern wollen, die einfach immer sagen: „Ich habe ja keine Ahnung von Behinderten, erkläre mir das mal.“ Dann habe ich das bereitwillig erklärt, und dann war die Zeit alle, und dann ist man auseinandergegangen. Ich habe wieder gegeben und die Gesellschaft hat sich kein bisschen weiter gedreht. Wenn wir zum Beispiel wirklich glauben, mit Aufklärung können wir irgendjemanden davon überzeugen, dass Inklusion nur durch Aufklärung gelingen kann, dann lügen wir uns in die eigene Tasche. Weil die wahren Verhinderer von Inklusion Verkehrsminister*innen, Sozialminister*innen oder Bausenator*innen sind. Also Menschen, die Gesetze und Regeln machen und die wieder eine Ausnahme erfinden, wo Inklusion jetzt doch nicht sofort passieren muss. So wird z.B. beim Neubau von Wohnungen gesagt, dass nur 10 Prozent barrierefrei sein brauchen. Das heißt, wir verschieben das Problem immer weiter in die Zukunft, anstatt einmal zu sagen, nein, ab sofort müssen alle Wohnungen barrierefrei sein.
Ein anderes Problem ist, dass wir Inklusion die ganze Zeit als einen Paradieszustand verkaufen. Indem wir sagen, wir müssen uns nur alle liebhaben. Es geht aber nicht ums Liebhaben. Es gibt so viele Veranstaltungen, Festivals, Museen, Theatergruppen und Workshops mit dem Titel: mittendrin / alle dabei / für alle /inklusiv. Dahin kommen nur die Leute, die sowieso schon auf unserer Seite sind. Aber wir sollten nicht glauben, dass wir damit irgendjemanden außerhalb unserer eigenen Werte erreichen.
Andreas Brüning
Menschen mit Behinderungen sollen also öffentlich sichtbarer werden, um mit dir für mehr gelebte Inklusion zu kämpfen. In deinem Buch gehst du auch auf die Kraft, die Menschen aus ihrer Behinderung schöpfen können, ein. Was verbirgt sich hinter diesem Perspektiv-Wechsel?
Raúl Aguayo-Krauthausen
Ich glaube, das ist etwas, was viele zu wenig machen. Wir sehen Behinderung immer nur als etwas Defizitäres, etwas, was klein gemacht werden muss, was geheilt werden soll, was therapiert werden muss. Aber in der Behinderung steckt auch eine unglaubliche Kraft, zum Beispiel die Kraft des Einfallsreichtums. Es gibt kaum eine andere Gruppe von Menschen, die so oft auf Barrieren stößt, wie behinderte Menschen. Eine andere Kraft, ist die Kraft der Mehrheit. Wir sind die am schnellsten wachsende Minderheit der Welt und wir haben Angehörige, wir haben Freunde, wir haben Verbündete. Wenn man das hochrechnet. sind wir bei 4,6 Milliarden Menschen. Das ist unfassbar viel!
Dann haben wir noch die Kraft der Intersektionalität, das heißt behinderte Menschen, haben vielleicht besser verstanden, dass unsere Welt vielfältig ist, als nicht-behinderte Menschen. Wir wissen, dass es Menschen gibt, die schwarz sind. Wir wissen, dass es Menschen gibt, die trans sind. Ja, es mag sein, dass der eine oder andere Mensch mit Behinderungen damit ein Problem hat, aber ich wette, dass die Mehrheit der behinderten Menschen weiß, dass die Welt nun mal bunt und vielfältig ist, weil wir auch bunt und vielfältig sind. Wir können damit vielleicht besser umgehen. Eine andere Kraft, die ich sehr schön finde, ist die Kraft der Authentizität. Wir leben in einer Welt wo alle nach Perfektion streben, vor allem auf Hollywood-Leinwänden. Da wird einem der Superheld oder die Superheldin gezeigt, alles über Norm schöne Menschen. Ich kann mich auf den Kopf stellen und ich bin immer noch behindert. Das ist halt behindert auf den Kopf gestellt. Der einzige Weg, den ich habe, ist, das zu akzeptieren und damit zu leben und mit Würde zu leben, so gut ich das kann.
Andreas Brüning
Das iXNet-Team reflektiert in Peer-Beratungen und Veranstaltungen über Wege in die Resilienz. Gerade weil Akademiker*innen mit Behinderung im Zeitalter des Fachkräftemangels zu einer begehrten Zielgruppe für Arbeitgeber*innen geworden sind, benötigen diese neue Pfade zur Selbstermächtigung und Selbstverwirklichung. Was brauchen Akademiker*innen mit Behinderung, um noch besser im Leben und Arbeitsleben empowert zu sein?
Raúl Aguayo-Krauthausen
Ich glaube, eine große Hilfe wäre, dass wir uns untereinander vernetzen und wir Gemeinsamkeiten finden jenseits der Tatsache, dass wir selber eine Behinderung haben. Akademiker zu sein, Akademikerin zu sein, ist ja eine Art Gemeinsamkeit und schon mal ein gutes Netzwerk. Dann ist es wichtig, den Erfahrungsaustausch voranzutreiben, aber vor allem auch die Nicht-Akademiker*innen mitzudenken, die ja die gleichen struggles haben. Es kommt darauf an, deutlicher Gemeinsamkeiten zu finden, sei es Sport, Leidenschaften, Hobbys oder Interessen oder auch Kunst. Kunst ist, glaube, ich wirklich ein wichtiger und spannender Aspekt. Auch Eltern sein kann etwas Verbindendes sein um da Netzwerke zu bauen und auch pragmatische Lösungen zu finden.
Andreas Brüning
Raúl, du hast in den letzten 20 Jahren viele Projekte initiiert und Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung geschaffen. Was sind die grundsätzlichen Erfolgskriterien auf dem Weg von sogenannten Leuchtturm-Projekten?
Raúl Aguayo-Krauthausen
Was für ein Weg war das? Rückweg, Umweg, Seitenweg, aber es ging nicht voran. Es waren so viele Leuchtturmprojekte, die gekommen und gegangen sind. Da könnten wir schon ganz woanders sein und da müsste Deutschland längst abstrahlen. Also wie viele Leuchttürme wollt ihr noch bauen? Bringt die Dinge in die Struktur, bringt die Dinge in den Mainstream, also nicht ihr, sondern eure Finanziers. Sorgt dafür, dass Dinge verstetigt werden, dass das nachhaltig wird und nicht jedes Mal die ganze Institution sich damit beschäftigt, ihr Überleben zu sichern.
Andreas Brüning
Selbstbestimmung und Ermächtigung oder Empowerment sind in der Behindertenbewegung oft gesprochene Worte. Was hat dich genau auf deinem politischen Weg als Aktivist ermächtigt?
Raúl Aguayo-Krauthausen
Der Austausch, der Austausch mit anderen Menschen mit Behinderung. Das ist die einzige Antwort.
Je mehr Leute du kennst, je mehr Leute du triffst, desto besser, desto mehr lernst du. Du blickst letztendlich in den Spiegel. Du siehst von außen mal, wie du vielleicht auf andere wirken könntest. Das musste ich alles lernen, und das lernst du nur durch Begegnung. Keine Broschüre kann dir das erklären. Dann erfährst du auch, dass Menschen mit Down-Syndrom unfassbare Musik-Genies sind. Was du selber bei all deinen Vorurteilen nie gedacht hättest, was du alles Positives und Überraschendes lernst. Ich feiere das, im Sinne von - geil -, hast du wieder daneben gelegen.
Andreas Brüning
Lieber Raúl, das iXNet-Team und ich danken dir für das Gespräch.