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Ein Interview zum Thema Reform der Behindertenhilfe 2024 mitOttmar Miles-Paul

„Zündeln“ Ottmar Miles Paul – politisch und literarisch unterwegs

Ottmar Miles-Paul ist Aktivist für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Journalist, und seit August 2023 Romanautor. Er lebt in Kassel und engagiert sich für die Durchlässigkeit der Strukturen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, insbesondere für Menschen mit Behinderungen. Im Jahr 2024 stehen bei Ottmar Miles-Paul Menschen im Mittelpunkt, die in Behindertenwerkstätten arbeiten und leben und den Wunsch haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten. Er hat den Reportage-Roman „Zündeln an den Strukturen“ im August 2023 auf den Büchermarkt veröffentlicht und ist seit Frühjahr 2024, neben seinen anderen Aufgaben für Inklusion und Barrierefreiheit, auf Lese-Reise.

Andreas. Brüning: Lieber Ottmar, du bist Aktivist für Menschen mit Behinderungen, Journalist, Romanautor und genießt gerade den sommerlichen Schwarzwald.

Wie würdest du dich selbst beschreiben?

Ottmar Miles-Paul: Ich freue mich, dass ich dabei sein kann. Ich sitze hier im Schwarzwald vor meinem Monitor und ich habe einen neuen Begriff gelernt, was ich hier gerade mache. Das nennt man heute Workation, also der Mix zwischen Arbeit und Urlaub, im Englischen Work und Vacation zuhause. Ich sitze, bin mittlerweile 60 Jahre alt, die Haare werden mit der Zeit weniger, der Bart wird immer sprießend grauer. Der Kerl guckt ziemlich wach in die Landschaft und freut sich auf unser Gespräch.

Andreas Brüning: Dein erster Roman, ein Reportage-Roman, erschien im Jahr 2023. Du beschreibst im Roman die Lebens- und Arbeitssituation von Menschen, die in Behinderten-Werkstätten tätig sind. 2024 soll eine Reform der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen im Bundestag verabschiedet werden. Du bist nunmehr ein politischer und literarischer Streiter für das Gute und Inklusive.

Wie sieht die Reform der Behindertenhilfe von 2024 aus und was erhoffst du dir davon?

Ottmar Miles-Paul: Ja, würde man jetzt groß denken, dann würde man zurückblicken auf die Staatenprüfung des UN-Ausschusses zur Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention in Genf im August 2023. Die haben uns ins Stammbuch geschrieben: Ja, Deutschland muss seine exklusiven Strukturen strategisch hin zu inklusiven Angeboten weiterentwickeln. Und ich glaube, das ist eine große, ich nenne es jetzt einfach (..) eine große Last, die wir in Deutschland haben, dass wir einfach so geprägt sind durch diese ausgrenzenden Strukturen. Es fängt an bei der Schule, wenn wir nicht dafür sorgen, dass behinderte und nicht behinderte Kinder und Jugendliche zusammen in die Schule gehen, zusammen aufwachsen, wie soll es dann gelingen, dass sie im Arbeitsmarkt zusammenkommen? Denn ganz oft ist es doch so: Man kennt jemanden, in der Nachbarschaft oder im Dorf oder im Kreis oder in der Stadt und hat da irgendwelche Kontakte. Und so entstehen dann: ach, will ich nicht mal bei uns im Betrieb ein Praktikum machen, mal kennenlernen. Ja, und so entstehen auch Jobs. Aber wenn behinderte Menschen schon mit dem Sonderfahrdienst (.) in die Werkstatt gehen und dann noch Therapien haben, man trifft sich kaum, man ist ein Wesen vom anderen Stern.

Also es beginnt in der Schule. Es geht dann weiter vom Übergang von der Schule in den Beruf. Und da haben wir halt oft wirklich diesen Automatismus, (.), wo man dann sagt, na ja, machen wir doch mal Werkstatt für behinderte Menschen. (.) Dann machen die Leute aus Förderschulen anstatt Praktika in irgendwelchen Betrieben, machen sie Praktikum in der Werkstatt. (.) Ja, die Werkstatt ist eigentlich (...) hauptsächlich dazu da, die Unterstützung zu bieten, (...) sich zu stärken, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt überzugehen. Das heißt, ich muss beim allgemeinen Arbeitsmarkt auch anfangen, die Übergänge von Schule in den Beruf, die müssen wir inklusiv gestalten. Wir brauchen Zukunftsplanungen, wir brauchen Ideen für die jungen Menschen. Wir brauchen auch Unterstützung für Betriebe. Ja, wie kann man (...) Arbeit ermöglichen? Und ich erlebe das (.) immer wieder: Wir haben immer so eine Alles oder Nichts Idee. Ja, also es geht nicht, da muss man in die Werkstatt, wenn man in der Werkstatt ist und dann auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, dann muss alles gehen. Nein, es ist ja so, wir brauchen oft einfach auch Unterstützung und Assistenz. Ja, also ein blinder Mensch, der jetzt sich plötzlich am Arbeitsplatz zurechtfinden muss, oder eine Person, die vorliest, die bei der Orientierung hilft. Dieser Mensch hat einen wahnsinnigen Druck, wenn man die Unterstützung nicht bekommt. Das brauchen natürlich auch die Menschen, die in der Werkstatt sind. Also deshalb Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtern, Unterstützung stärken. Und deshalb haben wir ja auch eine Gesetzesänderung 2016 gehabt. Das Budget für Arbeit, dass also auch Geld an den Arbeitgeber gezahlt werden kann, dass es Unterstützungsleistungen gibt. Und das muss man gezielt unterstützen. Bisher hat kaum jemand Interesse daran, dass behinderte Menschen statt in einer Werkstatt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind. Die in der Werkstatt, die haben ihren Job, die sind oft froh, wenn der Laden gefüllt ist. Die wollen ihre Stärkeren nicht abgeben. (...) Man braucht gute Unterstützungsdienste. (....) Da geht es eigentlich nur darum, welche Unterstützung bekommt der Mensch? Und diese Unterstützung muss sich an den Interessen, am Bedarf der Menschen orientieren. Und nicht umsonst reden wir in der Behindertenhilfe-Politik (.) inzwischen von kundenzentrierter Unterstützung statt von der Einrichtungszentrierung. (...) Wir müssen die Werkstätten natürlich auch viel mehr herausfordern. Wir müssten belohnen. Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Wir müssen das fordern.

Andreas Brüning: (...) Was würdest du den Akteur*innen, insbesondere der Bundesagentur für Arbeit empfehlen und wie genau können die Strukturen verändert werden?

Ottmar Miles-Paul: (...) Die Bundesagentur für Arbeit soll sich lebenslang für behinderte Menschen, auch die in Werkstätten sind, zuständig (.) fühlen. Sie sollen beginnen, bereits in der Berufsberatung sich der (.) Gedankenwelt öffnen, ja, sich auch mit Modellen beschäftigen, wo behinderte Menschen, die sonst in die Werkstatt geschickt worden wären. (.) Wo (.) gibt es Arbeitsmöglichkeiten? Also sich den Horizont (.) öffnen und diesen Automatismus, (...) Praktikum in Werkstatt, (...) auch in den normalen Betrieben zu fördern. Da gibt es auch jetzt das Budget für Ausbildung. Aber das ist alles noch viel zu starr, viel zu unflexibel. Da geht also auch gesetzgeberisch noch mehr, (...) vom Engagement, dass sich die Bundesagentur für Arbeit (.) für alle mit zuständig fühlt, die jetzt zum Beispiel in einer Werkstatt für behinderte Menschen sind und sagen „Ich will raus. Ich möchte gerne etwas anderes probieren, ich möchte gerne einen richtigen Job, ich möchte Geld verdienen“. Diese Menschen, die hängen im Moment leider oft nur in der Schleife ihres (..) sehr kleinen sozialen Netzwerks, aber auch der Werkstatt. (...) Sie müssten eigentlich eine Ansprechstelle haben, sei es die Integrationsfachdienste, die Agenturen. (...) Wenn es behinderte Menschen (.) schaffen, dass sie jetzt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt kommen und die Mittel des Budgets für Arbeit diese Zuschüsse nutzen können, dann sind sie nicht arbeitslosenversichert. Das heißt, das war mal gut gedacht. Also es gibt ein Rückkehrrecht in die Werkstatt für behinderte Menschen. Wenn es jetzt nicht klappt, ja, ich arbeite auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, es klappt nicht mehr und das ist auch richtig, dass sie nicht im Nichts dastehen. Aber es gibt auch viele behinderte Menschen, die sagen „Ich will gar nicht zurück in die Werkstatt, ich möchte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bleiben, nur dann sind die nicht arbeitslosenversichert“. Also da merkt man wieder, was da für Hürden sind. Ja, und dann gibt es natürlich die Möglichkeit, auch solche Projekte mit anzuschieben. Wir haben das jetzt an einigen Universitäten, also Ausbildungen, wie man zum Beispiel ja Studierenden, auch vielleicht Agentur Beraterinnen (..) über die Sichtweisen über die Möglichkeiten behinderter Menschen (.) informieren kann. (.) Wie behinderte Menschen ihre Erfahrungen weitergeben können, wie man sich (.) austauschen kann. (...) Ja, und jetzt reden wir mal über die ZAV Akademikervermittlung. Wir haben eine ganze Menge von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in Werkstätten, und die kommen im Laufe ihres Lebens in die Werkstatt. Die haben eine Krise, einen Zusammenbruch. Es klappt nicht mehr im Job. Ja, da wäre für mich die erste Maßgabe, auch noch mal genau hin zu gucken, wie kann man Jobs besser erhalten, auch trotz psychischer Probleme? Wie können wir Fördermittel frühzeitig einsetzen? Aber auch ja, dass dann die Werkstatt nicht Endstation ist und da sind auch eine ganze Reihe von Akademikerinnen und Akademiker dabei, die psychisch beeinträchtigt sind. Und da einen genaueren Blick drauf zu werfen. (...) Wir haben eine Beschäftigungspflicht und ich finde, die sollte man auch einfordern (...).

Andreas Brüning: Wie sieht für Dich eine Gesellschaft mit anderen Unterstützungsmodellen als die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen aus?

Ottmar Miles-Paul: (... ) Letztendlich will ich mich gar nicht so an den Werkstätten aufhängen, sondern die Werkstätten sind eigentlich nur ein Instrument der Unterstützung behinderter Menschen. Also niemand hat die Werkstätten für behinderte Menschen in Stein gemeißelt, sondern was in Stein gemeißelt ist und auch sein sollte, ist, dass behinderte Menschen, (.) Unterstützung bei der Beschäftigung brauchen. (...) Und wenn ich jetzt den Ansatz der Personenzentrierung nehme, dann gibt es sicherlich Menschen, die sagen „ach, für mich passt das“, ich gehe da gerne hin, dann sollen die auch (...) dort gute Arbeit finden, eine gute Unterstützung bekommen. (...) Aber wir sollten natürlich die Türen (.) öffnen zum allgemeinen Arbeitsmarkt. (...) Inklusionsbetriebe, (.) das sind zum Teil neu gegründete Betriebe, die bekommen (.) eine ganze Menge Zuschüsse und dort arbeiten behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen. Ja, warum kann sich zum Beispiel (.) nicht eine Werkstatt zum Inklusionsbetrieb (.) verändern. Dann haben wir ungefähr 27.000 behinderte Menschen, die den Werkstätten zugezählt werden, aber die arbeiten gar nicht mehr in den Werkstätten. Die sind auf ausgelagerten Arbeitsplätzen, wie es heißt. Und da frage ich mich natürlich, das mag für ein halbes Jahr, für ein Jahr, (...) sinnvoll sein, dass man sich erprobt. Aber warum werden die vom Arbeitgeber nicht eingestellt? (.) Sie sind ja dort, sie kennen sich. Da kann man (.) nicht sagen, die Arbeitgeber, die wollen diese nicht. Die Arbeitgeber bekommen sogar sehr viel Lohnkostenzuschuss. 27.000. Sagen wir, wir würden 20.000 schaffen, das wäre schon eine kleine Revolution.  (...) Wem es dort gefällt, die sollen dortbleiben können. Aber sie sollen eine Chance bekommen zu wissen, wie es anders geht. Menschen kennenlernen können, (...) um wie eben die meisten anderen (.) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten, inklusiv mit Kolleginnen und Kollegen, mit und ohne Behinderung.

Andreas Brüning: Was muss dafür jetzt politisch umgesetzt werden? 

Ottmar Miles – Paul: (...) Wir haben jetzt noch gut ein Jahr bis zur nächsten Bundestagswahl. Und (.) diese Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP hat in Sachen Behindertenpolitik eigentlich ein weiteres Fenster aufgemacht. (.) Denn im Koalitionsvertrag stehen viele gute Sachen drin: zur Verbesserung der Barrierefreiheit, zur Verbesserung der Beschäftigung, auch sozusagen zur Stärkung des inklusiven Arbeitsmarkts. Und wenn ich jetzt mal ein Jahr vorausblicke, dann würde ich hier gerne das eine oder andere noch feiern. Denn ich glaube, mit (...) gutem Engagement für Inklusion könnte man noch etwas rocken und (..) manchmal diejenigen übertönen, die sich gerne in ihrem bewährten System einfach gerne verbleiben und einnisten. (...) Natürlich engagiere ich mich auch dafür und darum bin ich auch im Moment auf den Lesereisen. Mir geht es weniger um den Roman, sondern mir geht es hier echt um die Politik. Jede Veranstaltung ist (.) ein Abenteuer, aber ich mache es gern, wenn wir etwas erreichen für die Menschen und wenn es dann (.) hoffentlich etwas zu feiern gibt. (...) Ich hatte das Glück, in meinem Leben viele Erfahrungen sammeln zu können. Ich konnte in die USA (.) als Studierende reisen. Ich konnte dort viele Leute treffen, vieles kennenlernen. (.) Das Leben hat es mit dem Arbeiterkind, als das ich in meinem kleinen Dorf aufgewachsen bin, der sehbehinderte Bub, sehr gut gemeint und dadurch habe ich natürlich auch (...) Verantwortung. (...) Ich werde auf jeden Fall dranbleiben. Jetzt fragt natürlich der literarisch interessierte Andreas Brüning nach dem nächsten Buch.

Andreas Brüning: So ist es Ottmar! Welche politisch motivierte Geschichte wirst du in deinem Folge-Roman erzählen?

Ottmar Miles-Paul: Also ich habe angefangen (.) und auch auf die Gefahr hin, dass mir jemand die Idee wegreißt. Wir springen jetzt mal in das Jahr 2034 und wir feiern gerade 25 Jahre in Kraft treten der UN Behindertenrechtskonvention. (.) Ja, wie sieht das Leben in (.) ja nicht mal (.) weniger als zehn Jahren in Deutschland aus? (.) Haben wir es geschafft, einiges zu verändern, (.) auf die UN zu hören mit ihren menschenrechtlichen Empfehlungen? Was macht zum Beispiel so eine Helen Weber? (.) Ist die Katrin Grund als Journalistin noch aktiv? Ja, und was konnte (.) die Enthinderungsgruppe, die Behindertenbewegung (...) erreichen, welche Widerstände konnten (...) Eltern ja brechen gegen ja diese oftmals Weigerung zur Inklusion. Ja, dann brauchen wir natürlich einen Aufhänger und ein Aufhänger könnte ein Bombenanschlag sein.

Andreas Brüning: (.) Das ist ein abenteuerlicher Ausgangspunkt, mit einer Wucht und hoffentlich mit keinen verletzten Menschen. Welche Handlung umkreist die Bombendrohung bzw. den Bombenanschlag?

Ottmar Miles-Paul: (.) Der Bombenanschlag, der kommt diesmal von der anderen Seite. (.) Also wie gesagt, es inspiriert mich jetzt schnell dieses Buch zu schreiben. (...) Auf jeden Fall gibt es da Menschenrechts-TV in 2034, das eine wichtige Rolle in der Medienlandschaft spielt. Und dieses menschenrechtliche Format der Darstellung von (.) Menschenrechtsverletzungen, das gefällt natürlich nicht allen. Und natürlich werde ich versuchen, es möglichst unblutig zu lassen. (...) So ein Bombenanschlag oder eine Bombendrohung, die könnte Aufhänger sein für (.) Helen Weber, (.) Katrin Grund und andere, noch mal zurückzublicken. Was ist denn da zwischen 2023 und 2034 in Deutschland so alles passiert oder auch nicht passiert.

Andreas Brüning: In deinem neuen Roman werden also Menschenrechtsaktivist*innen und ihre Institutionen in 2034 angegriffen. Ich bin neugierig. Wie lautet dein letzter Satz in diesem Gespräch, Ottmar?.

Ottmar Miles-Paul: Ich glaube, (.) der letzte Satz ist: (...) Hier geht es um Menschen und darum finde ich (.) gerade () den literarisch geprägten Ansatz, (...) auch jetzt im Podcast aus dieser Perspektive zu machen, finde ich sehr gut. Ja, weil ich glaube, viele von uns haben Geschichten zu erzählen. (.) wo Erfolge, Probleme, Herausforderungen, auch Spaß (.) geschildert werden. Und das alles macht das Leben aus und das macht auch Inklusion aus.  (...)

Andreas Brüning: Einen Link zum Interview über den Roman „Zündeln an den Strukturen“ von Ottmar Miles-Paul finden Sie In der Rubrik „Über den Tellerrand von iXNet hinaus“.

Das iXNet-Team des Arbeitgeberservice für schwerbehinderte Akademiker der Bundesagentur für Arbeit dankt dir herzlich für das Gespräch.