„Zündeln an den Strukturen“ Ein Reportage – Roman auf Lese-Reise
Ein Gespräch mit dem Autor Ottmar Miles-Paul
Die Handlung:
Sie haben es tatsächlich getan und sind selbst überrascht, dass sie zu einer solchen Tat fähig waren. Bestimmt hunderte Male hatten sie mit wachsender Frustration durchgespielt, wie sie sich gegen die Ungerechtigkeiten in der Werkstatt für behinderte Menschen wehren könnten. Heute Nacht haben Helen Weber und ihre beiden Freunde das Werkstattgebäude in Brand gesetzt. Warum diese Brandstiftung? Kommen Helen Weber und ihre Freunde mit dieser Tat davon? Und was wird nun in der Praxis aus ihrem theoretischen Gedankenspiel „Was wäre möglich, wenn es keine Werkstatt für behinderte Menschen in unsrer Stadt gäbe?“ Katrin Grund, eine junge Volontärin der Lokalzeitung, ist aufgrund ihrer Schlaflosigkeit schnell an der Brandstelle. Bei der Brandstiftung wittert sie eine größere Story. Sie hofft, damit endlich in der Redaktion Fuß fassen zu können, und beginnt über das System der Werkstätten für behinderte Menschen zu recherchieren. Dabei lernt sie die Enthinderungsgruppe kennen. Deren Mitglieder setzen sich für Inklusion und den Abbau von Barrieren ein. So entstehen Freundschaften, aber auch Verirrungen und Verwirrungen.
Andreas Brüning:
Lieber Ottmar, du bist Aktivist für Menschen mit Behinderungen, Journalist, Romanautor und genießt gerade den sommerlichen Schwarzwald. Wie würdest du dich selbst beschreiben?
Ottmar Miles-Paul:
Ich freue mich, dass ich dabei sein kann. Ich sitze hier im Schwarzwald vor meinem Monitor und ich habe einen neuen Begriff gelernt, was ich hier gerade mache. Das nennt man heute Workation, also der Mix zwischen Arbeit und Urlaub, im Englischen Work und Vacation zuhause. Ich sitze, bin mittlerweile 60 Jahre alt, die Haare werden mit der Zeit weniger, der Bart wird immer sprießend grauer. Der Kerl guckt ziemlich wach in die Landschaft und freut sich auf unser Gespräch.
Andreas Brüning:
Ottmar, Du hast einen Roman geschrieben, „Zündeln an den Strukturen“ ist der Titel.Wie schreibt ein Journalist, Aktivist und Politiker für Menschen mit Behinderungen einen Roman? Mit einem Literatur-Coach?
Ottmar Miles-Paul:
Nein, ich saß auf dem Balkon Spätsommer 2021 hier im Schwarzwald und dachte nach, bis mir das Szenario mit der Brandstiftung einfiel. In den letzten zehn Jahren habe ich auch natürlich sehr viele Hörbücher gehört und aus vielen Büchern Anteile bzw. Ideen in mir aufbewahrt. Also ich habe mir das irgendwie so ausgetüftelt, habe dann mal angefangen mit den drei Charakteren und dann war meine Frau mal ein Wochenende weg und ich habe da einfach mal verrückt in die Tasten gehauen. Da kam sie zurück. Dann habe ich sie gefragt: Hast du mal Lust, die ersten 30 Seiten meiner Geschichte zu lesen? Sie hat Germanistik studiert und hat ein Gefühl für Geschichten. Sie hat es gelesen, natürlich mit kritischem Blick. Meine Sätze waren immer zu lang und was weiß ich, aber die Geschichte, die Entwicklung und das ganze Thema war okay.
Ich habe mich für den Selbst-Verlag entschieden, ansonsten wäre die Bearbeitungszeit sehr lang gewesen. Drei Verlage waren interessiert. ich hatte auch meine Befürchtungen, dass jemand ankommt und die Geschichte inhaltlich verdreht. Ich kenne mich. Ich bin ungeduldig und manchmal unleidig. Das war, glaube ich, der bessere Weg, auch wenn das Buch sicherlich nicht perfekt ist. Aber auch das finde ich gut und richtig, denn ich erlebe viele Menschen, die wirklich etwas zu sagen und zu schreiben haben und an dieser riesen Perfektions-Hürde scheitern. Ja und das finde ich einfach jammerschade. Und deshalb sage ich immer, wenn jemand einen Fehler findet. Herzlichen Glückwunsch. Meine treuesten Leserinnen und Leser, die finden das. Das gehört natürlich auch dazu. Und ich habe es sehr oft überarbeitet und man glaubt nicht, wie viele Fehler man findet. Ja, das sind ca. eine halbe Million Zeichen, die ich da bewegt habe.
Andreas Brüning:
Eine halbe Million Zeichen werden durch den Titel „Zündeln an den Strukturen“ eingerahmt. Was bedeutet zündeln für dich?
Ottmar Miles-Paul:
Ich bin nach vielen Jahren als Kobinet -Nachrichten-Redakteur, in denen ich produziert und jeden Tag etwas veröffentlicht habe, darauf gekommen, ich müsste mal einen Roman schreiben. Das hat viel damit zu tun, dass ich in vielen Gremien aktiv bin, unter anderem auch zum Thema Werkstätten für behinderte Menschen. Und ich habe gemerkt, man sitzt oft so da und geht es um Fakten und um Zahlen. Aber das ist so abgehoben und weit weg. Und da dachte ich mir, wie habe ich mir Themen angeeignet, die ich vorher noch nicht konnte? Ich höre zum Beispiel Romane als Hörbücher, die die Geschichten der Menschen mir und anderen näherbringen. Und dann dachte ich, dass probiere ich auch einmal. Und kurz darauf hatte ich schon eine Idee für den Roman „Zündeln an den Strukturen“. Du hast es angesprochen, da geht es ums Zündeln, da geht es um die Strukturen. Ich weiß, wie schwierig es ist Strukturen zu überwinden, gerade bei den ausgrenzenden Strukturen in Deutschland. Wenn wir über Inklusion diskutieren, merken wir, wie vielschichtig das ist. Es geht einerseits um gesetzliche Regelungen, die verwaltungstechnische Umsetzungen, das Liebgewonnene und andererseits um das Probieren und Etablieren von neuen Dingen. Ich dachte mir, dass ist ein Anlass für ein Romanprojekt, um an den Strukturen zu zündeln. So kam es zur Idee dieser Geschichte. Behinderte Menschen arbeiten in einer Werkstatt in der sie Ungerechtigkeiten erleben, unzufrieden sind, gerne etwas anderes ausprobieren würden. Also stecken sie in der Geschichte die Werkstatt in Brand. Mich hat interessiert, welche neuen Wege, welche neuen Denkmuster sich ergeben, wenn plötzlich die Werkstatt nicht mehr da wäre und die behinderten Menschen neu denken und inklusiv arbeiten könnten?
Andreas Brüning:
Mit welcher Figur oder welchem Charakter hast du dich besonders identifizieren können?
Ottmar Miles – Paul:
Helen Weber ist die Hauptfigur in dem Roman „Zündeln an den Strukturen“. Sie ist eine Rollstuhlnutzerin, 30 Jahre alt und war auf einer Förderschule. Durch den Abschluss auf der Förderschule und den Strukturen waren ihr viele Chancen verbaut. Die Strukturen in Deutschland führten sie auf direktem Wege in die Werkstatt für behinderte Menschen. Aber die wissbegierige Helen Weber denkt nach, sie diskutiert gerne und hat sich natürlich auch mit vielen Menschen in der Werkstatt für behinderte Menschen unterhalten. Sie sieht und erfährt Ungerechtigkeit bei sich selbst und anderen in der Werkstatt. Der Durchschnittslohn ist gering. Behinderte Menschen in einer Werkstatt verdienen 226 € im Monat. Helen Weber hat sich Nachts nach langen Planungen und Überlegungen zusammen mit ihren zwei Freunden aus der Werkstatt aufgemacht und kommt zum Anfang des Romans nach einer Brandstiftung auf die Werkstatt zurück an ihre Wohnstätte.
Andreas Brüning:
Wie hast du den Plot insbesondere die Figur Helen Weber weiterentwickelt?
Ottmar Miles-Paul:
Erst einmal soll sich die Leserschaft mit der Frage konfrontiert sehen, ob die Brandstifterin erwischt wird und wie die Menschen in der Werkstatt jetzt einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt finden werden. Helen Weber nutzt ihre Chance und findet einen Praktikumsplatz in einem Ambulanten Dienst. Sie hat jemanden an ihrer Seite, der sie gut unterstützt. Aus dem Nichts hat sie eine Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt etwas zu arbeiten und andere Menschen auf ihrem Weg in die Selbstbestimmung zu unterstützen sowie ihr Engagement zu befeuern. Helen Weber ist mir als Beschäftigte in einer Behinderten-Werkstatt sehr nahe, weil ich in dem Roman die Erfahrungen verarbeite, die Freundinnen und Freunde mit mir geteilt haben.
Andreas Brüning:
Katrin Grund, eine Journalistin im Volontariat, ist aufgrund ihrer Schlaflosigkeit schnell an der Brandstelle. Wer ist Katrin Grund für dich und welche Funktion hat sie in deinem Roman „Zündeln an den Strukturen“?
Ottmar Miles-Paul:
Katrin Grund geht nachts durch die Stadt, weil sie nicht schlafen kann. Sie ist im Volontariat und muss noch Fuß fassen in ihrer Zeitungsredaktion. Und die kommt sozusagen zur Branche und fängt an zu recherchieren über das System der Werkstätten. Katrin Grund lernt in ihrer journalistischen Rolle, das System der Behindertenhilfe kennen. Sie ist mir natürlich auch sehr nah und deshalb habe ich ihr auch die fiktive Mit-Autorenschaft gegeben.
Andreas Brüning:
In deinem Figuren-Ensemble hast Du hauptsächlich Frauen als Protagonistinnen ausgewählt. Welche Bedeutung haben engagierte selbstbestimmte weibliche Figuren für Dich?
Ottmar Miles-Paul:
Ja, ich glaube, dass ich eine ganze Reihe von starken Frauen kennengelernt habe. Eine Frau, die ich kennenlernte als sie Landesbehindertenbeauftragte von Rheinland-Pfalz war, hat lange Zeit als vorsitzende Werkstatträtin gewirkt. Sie hatte eine Sprachbehinderung und ihr hat es in der Werkstatt damals sehr gut gefallen. Ich habe ihr gesagt, dass freut mich, wenn es dir in der Werkstatt gefällt, aber ich hoffe, dass wenn es mal nicht so ist, dass du auch eine Chance bekommst außerhalb der Werkstatt auf dem ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten.
Sie hat dann kurz vor ihrer Rente den Sprung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt geschafft, insbesondere weil sie das Budget für Arbeit bekommen hat. Ich kenne auch Frauenbeauftragte in Einrichtungen, die starke Persönlichkeiten und enorme Potentiale haben, aber von diesem Werkstattsystem gedrückt, manchmal auch erdrückt werden. Die Figur Helen Weber bekommt ihre Chance und nutzt sie.
Andreas Brüning:
Wie hast du den Plot (Handlungsverlauf) weiter gestaltet, nachdem die Behindertenwerkstatt abgebrannt war?
Ottmar Miles-Paul:
Als ich das geschrieben habe, da habe ich gedacht Oh weia, jetzt werde ich der Brandstifter der Nation. Und überall wo nun kleines Flämmchen entsteht, ist Ottmar Miles-Paul schuld. Ich rufe bei Lesungen auch nicht nach dem Motto macht kaputt, was euch kaputt macht oder brennt alles nieder, sondern verweise darauf, dass das hier ein Roman, eine Fiktion ist. Ich will die Werkstätten nicht abbrennen. Aber ich möchte an dem System zündeln und das ist das Spannende. Was wir oft erleben, wenn man ein behindertes Kind in die Schublade Förderschule steckt, ist, dass die Werkstatt dann der nächste Aufenthaltsort des Menschen mit Behinderung wird. Wir müssen uns fragen, wie wir diesen Menschen die bestmögliche Unterstützung in einem inklusiven Arbeitsumfeld ermöglichen. Was können wir tun? Ein Job im Getränkemarkt organisieren. So entstehen Jobs mit der Zeit und Wege, die vorher nie gegangen worden wären. Im Roman gibt es natürlich auch die Arbeitgeberseite, die die eine Werkstatt für behinderte Menschen betreiben, wollen neu und mit erweiterten Kapazitäten bauen. Beide Positionen stehen sich gegenüber und das ist auch die Realität in meinem Roman. Ich hätte gerne das Utopia „volle Kanne“ gezeigt, wo die Werkstätten nicht mehr nötig gewesen wären. Es gibt Beispiele in USA, wo Beschäftigungsverhältnisse geschaffen wurden und letztendlich die Werkstätten abgebaut wurden. Betroffene, die bisher in der Werkstatt waren, die treffen sich und fragen sich was ihnen Spaß macht. Sie werden aktiv und plötzlich erhalten sie einen Job in einer Bücherei. Das ist möglich.
Andreas Brüning:
Ottmar, bisher hast du dich als Journalist, Lobbyist und Politiker für Menschen mit Behinderungen eingesetzt. Wie hast du den literarischen Aktivisten in dir lebendig werden lassen?
Ottmar Miles-Paul:
Ich hatte eine Grundidee und wusste ungefähr wo es hingehen könnte und dann setzte ich mich vor meinen Monitor und tippte schnell in die Tasten. Ich schreibe also recht schnell und meine Frau rief mir zu, „Du hockst da wie manisch“ So bin ich in die Geschichte hineingewachsen. Und ich hätte das nie von mir gedacht, dass die Geschichte in mir lebendig werden könnte. Ich glaube, dass das der zweite Auslöser war. Danach bin ich tief in die Figuren eingestiegen.
Ich schaue jetzt anders auf die Menschen als vorher. Ich habe jetzt zwölf Lesungen hinter mir, neun Lesungen kommen noch und das verwebt sich im Moment gerade auch mit der politischen Diskussion. Wie kann das Werkstätten-System reformiert werden? Wie kann die Unterstützung behinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verbessert werden? Und da hilft mir natürlich der Roman und dieses sich auch bei Lesungen immer wieder in den Roman einfügen unheimlich, um verschiedene Meinungen stehen lassen zu können. So entstehen bunte Diskussion bei den Lesungen. Der Sprung ins Literarische ist für mich eine sehr gute Verbindung, immer wieder in die Diskussion zu gehen, weil wir in dieser Legislaturperiode eine Reform erwarten, die vielleicht auch ein „Reförmchen“ wird, aber behinderten Menschen mehr Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt anbietet. Hier trifft der Roman auf die Politik und umgekehrt
Andreas Brüning:
Du liest aus dem Roman bei den Lesungen nicht selbst. Was hat es mit der blinden Vorleserin/Sprecherin Sabine Lohner auf sich?
Ottmar Miles-Paul:
Das war eine der spannendsten Erfahrungen, weil ich in der Zeit als ich den Roman geschrieben habe, überhaupt nicht scharf auf Lesungen war. Die Kasseler, die haben gleich angefragt und haben gesagt: Komm, lass uns eine Lesung machen. „Na gut, machen wir“ habe ich geantwortet. Die Frage, die bei mir auftauchte, war, wie liest ein Sehbehinderter seinen Roman vor, ziemlich nah vor der Nase? Ja, wie macht der jetzt eine Buchlesung. Bei der Kasseler Lesung hatte ich meine Frau, Susanne Göbel und Barbara Vieweg von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland als Vorleserinnen. Dann gab es eine hochinteressante Fügung, Sabine Lohner aus Frankfurt tauchte auf. Sie ist eine blinde Vorleserin. Und dann kam mir der Gedanke, Sabine, wärst du nicht eine gute Leserin für meinen Roman. Sabine Lohner hat losgelegt und wir hatten unsere erste Online Lesung im Dezember 2023. Mit Sabine Lohner hat das einfach wunderbar funktioniert. Ich mag, wie sie liest. Ich muss aufpassen, dass ich die Übergänge wiederfinde, und so zieht sie mich immer wieder in meine Geschichte hinein. Mein Leben hat mich optimistisch geprägt, so dass ich mir gesagt habe, warum ist die Leseassistentin nicht meine Vorleserin und ich mache als Autor die Moderation und alles Drumherum. So sind die Lesungen immer tolle Abenteuer in denen der Roman auf seine Art lebendig wird.
Andreas Brüning:
Lieber Ottmar, das iXNet-Team dankt dir herzlich für das literarische Gespräch.